von Stefan Höltgen
„HOW DO YOU DO. PLEASE TELL ME YOUR PROBLEM“ – mit diesen Worten begrüßte das Programm ELIZA 1966 seine Nutzer:innen und forderte sie zum Dialog auf. Je nachdem, wie ernst man die Aufforderung nahm und welches Problem man formulierte, griff ELIZA das geschriebene auf und stellte dazu weiterführende Fragen. Dialoge zwischen ELIZA, dem Computerprogramm, das auf dem Mainframe-Computer IBM 7094 am Bostoner MIT lief, und einem Menschen, der vor einem Schreibmaschinen-artigen Eingabe-Terminal saß, über das die Dialoge ein- und ausgegeben wurden, konnten recht lange dauern, ohne dass der Mensch dabei bemerkte, dass ELIZA ihn und seine Probleme nicht wirklich „verstand“ – dass die Künstliche Intelligenz (KI) nur eingeschränkt intelligent war.
ELIZA, genauer gesagt: das DOCTOR-Script, das vom ELIZA-Programm ausgeführt wurde, entstand zwischen 1964 und 1967 zunächst als Experiment. Sein Entwickler, der Exil-Berliner Joseph Weizenbaum, plante damit die Möglichkeiten verbaler Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu testen. Dazu musste er verschiedene Bedingungen in seine Software implementieren: Zunächst musste eine Möglichkeit gefunden werden, menschliche Texteingaben maschinell zu lesen und zu erkennen – das heißt: den Kern der Aussage aus allen verbalen Ausschmückungen, grammatischen und syntaktischen Varianten herauszufiltern. Dieser musste sodann zu einer passenden verbalen Reaktion führen, die sowohl inhaltlich als auch formal (kohärent) zu der vom Menschen eingegebenen Aussage passte. Die zweite Bedingung, die es für Weizenbaum zu erfüllen galt, war ein narratives Setting zu finden, in welchem ein Dialog möglichst leicht in Gang gesetzt und gehalten werden konnte.
Für die Lösung der ersten Aufgabe, die in der Künstliche-Intelligenz-Forschung als „Natural Language Processing“ bezeichnet wird, hat Weizenbaum mit ELIZA Pionierarbeit geleistet. Zehn Jahre bevor ELIZA entstand, trafen sich am Dartmouth College in Hanover (New Hampshire, USA) namhafte Computerwissenschaftler, um dort das Thema „Artificial Intelligence“ zu diskutieren. Der Begriff, der dort aus der Taufe gehoben wurde, umfasste zu dieser zeit 1956 vor allem das Erkennen und Generieren natürlicher Sprache durch Computer. All jene Dinge, die später unter dem Begriff Künstliche Intelligenz subsummiert wurden, kamen erst in den folgenden Jahrzehnten aufs Programm der Wissenschaftler. Um Sprache erkennen zu können, muss die Struktur von Sätzen algorithmisch aufgelöst werden können – also der „Sprachbau“ verstanden und rekonstruiert werden. Hierfür hatte der US-amerikanische Linguist Noam Chomsky, der sich seinerzeit ebenfalls mit KI-Forschung befasste, bereits in den 1950er Jahren wichtige Grundlagenarbeit geleistet.
Weizenbaum folgte mit ELIZA daher genau dieser linguistischen Theorie und entwarf die KI ELIZAs so, dass sie vom Menschen eingegebene Sätze in Phrasen auflöste, die Satzsubjekte aufgriff, und die Prädikate und Objekte so änderte (z.B. Verben flektierte), dass sie als Erwiderung verstanden werden konnte: Aus einem vom Menschen eingegebenen „my mother“ wurde durch ELIZA „your mother“, aus einem „I was afraid.“ wurde „Why were you afraid?“ usw. ELIZA verfügte hierzu einerseits über Analyse- und Bildungsregeln, aus denen die Satzstrukturen der Eingabe in Satzstrukturen der Ausgabe transformiert werden konnten. Andererseits besaß ELIZA ein Repertoire an so genannten keywords (Schlüsselwörtern), auf die es in spezifischer Weise reagieren sollte. Fand ELIZA in einer Eingabe einmal kein solches keyword, dann hatte es eine Auswahl an Phrasen in petto, mit denen es die Eingabe parieren konnte. („That’s interesting! Tell me more.“)
Die keywords bestimmten im Wesentlichen, welche Art Diskurs ELIZA mit dem Menschen an der Terminal-Tastatur führte. Das DOCTOR-Script mit seinen „psychologischen“ keywords gilt als das bekannteste. Es simuliert einen Psychotherapeuten (nach der Therapiemethode Carl Rogers). Dieser stellt beständig Fragen und reagiert auf die Antworten mit Fortsetzungsfragen, die Teile der vorherigen Antwort aufgreifen. So entsteht beim Menschen der Eindruck eines psychologischen Gesprächs, das sich entlang der von ihm aufgeworfenen Themen entfaltet. Tatsächlich steht im Hintergrund aber lediglich eine keyword-Liste, die psychologisch einschlägige Begriffe (mother, family, afraid, anger, sad, …) enthält und ELIZA auf diese reagieren lässt. Weizenbaum hatte noch weitere Scripte entwickelt (etwa ein BOSS-Script, das eine Gehaltsverhandlung zwischen Angestelltem und Vorgesetzten durchspielt), die jedoch weniger populär wurden.
ELIZA war sogar lernfähig; man konnte ihm neue keywords eingeben und die dazu passenden Antwortsätze und Phrasen definieren. Das Dialogbetriebssystem, das am MIT auf dem IBM 7094 installiert war, erlaubte dies sogar von der Position des Nutzers am Terminal aus (ohne aufwändig Lochkarten oder Lochbänder stanzen zu müssen). Die Idee eines lernenden aber nicht wirklich verstehenden Systems war es auch, die Weizenbaum auf den Namen ELIZA gebracht hatte – angelehnt an George Bernhard Shaws Bühnenstück „Pygmalion“ (1913), in dem der einfachen Blumenverkäuferin Eliza Doolittle von einem Professor beigebracht wird, wie man sich gebildet ausdrückt und auf andere wirkt, ohne es wirklich sein zu müssen.
Zur Zeit der Entwicklung von ELIZA fand am MIT vielfältige Forschung zur Künstlichen Intelligenz statt. John McCarthy (der bereits 1956 die Dartmouth-Konferenz mit-initiiert hatte) hatte mit seiner Programmiersprache Lisp ein wichtiges Entwicklungstool für KI-Anwendungen geschaffen. Marvin Minsky, der ebenfalls in Dartmouth war und am MIT Mitgründer des dortigen AI-Labs war, beschäftigte sich mit (einer Frühform von) neuronalen Netzen, Robotik und computerisierter visueller Wahrnehmung. Das Umfeld, in dem ELIZA entstand, hätte daher eigentlich kaum günstiger für Weizenbaum sein können. Und dennoch verlief seine Arbeit weitgehend solitär.
So nutzte er nicht etwa die dafür bestens gerüstete Programmiersprache Lisp seines Kollegen McCarthy, sondern entwarf eine eigene Variante eines Listenprozessors für die Sprache Fortran, die er SLIP nannte. Es mag an Weizenbaums zu Beginn der 1960er Jahre wachsendem Missbehagen angesichts der Computernutzung am MIT gelegen haben, dass er keinen Anschluss an den dortigen KI-Diskurs suchte. Später, in seinem 1976 erschienenen Buch „Computer Power and Human Reason“ (dt. „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“, 1978) äußerte er sich überaus kritisch zur damaligen „Computerkultur“ am MIT. In diesem Buch, wie auch in seinem 1966 veröffentlichten Essay „ELIZA – A Computer Program for the Study of Natural Language Communication between Man and Machine“ stellt er ELIZA beinahe schon als Persiflage auf die KI-Gläubigkeit seines damaligen Umfelds dar.
Das mag auch nicht wenig mit der frühen Rezeption des Programms zu tun gehabt haben, die Weizenbaum regelrecht erschüttert hatte. Er berichtet etwa davon, dass seine Sekretärin ihn aus dem Raum zu gehen bat, weil sie gerade eine sehr persönliche Konversation mit ELIZA führte (dem Programm also nicht nur die Psychotherapeutenrolle „abkaufte“, sondern die Terminal-Sitzung sogar über den menschlichen Dialog mit ihrem Vorgesetzten stellte). Außerdem sei er von praktizierenden Psychologen kontaktiert worden, die ihn um Erlaubnis baten ELIZA in ihren Praxen einsetzen zu dürfen. Weizenbaum, der die vergleichsweise simple Architektur seines Programms keineswegs für intelligent und schon gar nicht für „menschlich“ hielt, sah sich einer Entwicklung gegenüber, bei der Menschen nur allzu bereit waren, einem Computerprogramm ihre intimsten Geheimnisse und sogar die mentale Gesundheit von Patienten anzuvertrauen. Diese leichtgläubige Vermenschlichung von Computern wird seither als „ELIZA-Effekt“ bezeichnet.
Die Rezeption ELIZAs fand aber nicht allein vor diesem kritikwürdigen Hintergrund statt. Tatsächlich war Weizenbaums Programm eine der ersten Implementierungen eines Turing-Tests. Alan Turing hatte bereits 1950 künstlich-intelligente Systeme als solche definiert, bei denen einem Menschen nicht (sofort) klar ist, ob er es mit einem anderen Menschen oder einer Maschine zu tun hat, wenn er mit ihnen konversiert. ELIZA wurde daher in der KI-Forschung als wichtiger Markstein erkannt. Die vergleichsweise einfache Struktur der Software und ihrer Scripte führte alsbald auch zu Adaptionen – sowohl in andere Programmiersprachen als auch auf andere Diskursfelder.
Maßgeblich an der öffentlichen Bekanntheit ELIZAs wurde eine Version, die bereits 1973 in der Lehr-Programmiersprache BASIC von Jeff Shrager implementiert wurde. Diese erschien zwar erst 1977 in einer Computerzeitschrift, konnte ab da aber so von vielen Leser:innen und Computerbesitzer:innen in ihre neuerdings käuflich erhältlichen Computer eingegeben, verändert und erweitert werden. Das führte bis Mitte der 1980er Jahre zu unzähligen Varianten von ELIZA für alle möglichen Computersysteme und in vielen Programmiersprachen. Die Möglichkeit selbst mit kleinen Computern und vergleichsweise simplen Programmierkenntnissen eine KI-Software nutzen zu können, faszinierte viele Anwender:innen.
Mit heutigen Chatbots wie ChatGPT besitzt ELIZA nur oberflächlich Gemeinsamkeiten: Beide erkennen keywords und nehmen eine passende Zuordnung zu Aussagesätzen vor. Die Technologien von ELIZA und ChatGPT unterschieden sich jedoch fundamental voneinander. Während Weizenbaums Programm einer Sichtweise auf Künstliche Intelligenz folgt, bei der versucht wird Regeln (hier Satzbildungsregeln) zu erkennen und zu algorithmisieren – also mithin auch an einem Wissensprojekt für das menschliche Verständnis der Welt (hier: der Sprache) arbeitet –, folgt ein Chatsystem wie ChatGPT einem „Large Language Model“, das im Wesentlichen auf einer umfangreichen Datengrundlage (zuvor abgespeicherte Texte) mit Hilfe statistischer Verfahren grammatikalisch höchstwahrscheinlich richtige Sätze generiert. Hinter diesem Verfahren steht also kein symbolisches Wissensmodell, sondern Big Data, weshalb in der Informatik umstritten ist, ob es sich bei solchen Lern-Netzwerken überhaupt um Künstliche Intelligenz handelt.
Der Widerstreit zwischen einer symbolischen KI (wie sie ELIZA und viele andere bis in die frühen 2000er Jahre entwickelten KI-Programme darstellen) und einer sub-symbolischen oder konnektivistischen KI ist allerdings auch schon so alt wie die Forschung zur Künstlichen Intelligenz selbst. Im November 1956, wenige Wochen nach der oben erwähnten Dartmouth-Konferenz, fand am MIT ein Treffen der „Special Interest Group in Information Theory“ statt, an dem zahlreiche Psychologen, Linguisten, Informatiker, Anthropologen und Philosophen teilnahmen. Auf diesem Treffen wurde die Kognitionswissenschaft begründet, deren (erstes) Ziel es war, mithilfe von Computern Nervennetzwerke zu simulieren, um auf diese Weise zwar nicht Künstliche Intelligenz zu entwickeln aber ein Verständnis über das menschliche Gehirn zu erlangen. Dieser Zweig entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten unter anderem zur Forschung an und Entwicklung von sub-symbolischer KI weiter.
Joseph Weizenbaum kam erst 1964 ans MIT; sein Programm ELIZA wurde im Nachhall dieser wissenschaftlichen Grundlagendebatten entwickelt und lässt sich daher als – vielleicht sogar sarkastische – Reaktion auf die Bemühungen der KI-Forschung, Sprachverstehen und -entstehen zu automatisieren, sehen. Sicher ist jedoch, dass ELIZA die akademische wie private Beschäftigung mit Künstlicher Intelligenz maßgeblich befeuert und zu einem breiten Verständnis algorithmischer Verfahren der Sprachverarbeitung beigetragen hat. Dies dürfte – im Sinne einer technologischen Aufklärung – auch einem technologiekritischen Joseph Weizenbaum gefallen haben.
Stefan Höltgen ist Professor für Game Design und Game Studies an der SRH Heidelberg und forscht zur Geschichte und Archäologie von Spiele, digitalen Medien, Mikrocomputern, Programmiersprachen und Programmierung. Er hat Germanistik, Philosophie, Soziologie und Medienwissenschaft studiert und wurde in Germanistik und Informatik promoviert. www.stefan-hoeltgen.de
Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978.
Marianna Baranovska-Bölter/Stefan Höltgen (Hgg.): Hello, I’m Eliza. Fünfzig Jahre Gespräche mit Computern. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Reihe: Computerarchäologie Band 4.2. Bochum: Projektverlag 2023.
George Bernhard Shaw: Pygmalion. Romanze in fünf Akten. Text und Kommentar. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012.
Stefan Höltgen: Von der Sprachphilosophie zu ELIZA. In: Klaus Mainzer (Hg.): Philosophisches Handbuch Künstliche Intelligenz. Berlin u.a.: Sprinter 2019. (online: http://txt3.de/spri-eliza)
Douglas R. Hofstadter: Der unausrottbare Eliza-Effekt und seine Gefahren. In: Ders.: Die FARGonauten. Über Analogie und Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta 1996, S. 181–195.
Der ELIZA-Effekt
Die Wandlung zum Skeptiker
ELIZA gilt als der erste Chatbot in der Geschichte der Informatik. Mit Hilfe eines Skripts ermöglicht es eine Gesprächsinteraktion zwischen Mensch und Computer.
Das Programm stellt Fragen, das Gegenüber kann über eine Schreibmaschine ihre Antworten eintippen. Die bekannteste Variante ist das Skript DOCTOR, mit dem sich ein Therapiegespräch simulieren lässt, basierend auf der personenzentrierten Gesprächstherapie des amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers.
In einem wissenschaftlichen Aufsatz skizziert Weizenbaum die Funktionsweise und Anwendung, aber auch die Grenzen von ELIZA.
Das ‚triviale‘ Programm wird zu dem zentralen Wendepunkt in Weizenbaums Karriere.
Zu Weizenbaums Erschütterung ließen sich Versuchspersonen nicht nur auf ernsthafte Gespräche mit ELIZA ein, sondern vertrauten dem Computer persönliche Dinge an und schrieben ihm menschliche Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen zu. Vielen Nutzer:innen war es offenbar nicht wichtig, dass sie mit einer Maschine interagierten. Es kam nur darauf an, dass die Antworten und Fragen „menschlich“ erschienen. Dieses Phänomen wird heute als „ELIZA-Effekt” beschrieben und machte Weizenbaums Chatbot zu einem Meilenstein der KI-Forschung.
Selbst praktizierende Psychotherapeut:innen verkündeten, das Programm könne „zu einer fast völlig automatischen Form der Psychotherapie ausgebaut werden“. Man erhoffte sich, mit ELIZA zukünftig deutlich mehr Patienten behandeln zu können.
Das „triviale“ Programm sollte zu dem zentralen Wendepunkt in JWs Karriere werden.
Zu Weizenbaums Erschütterung ließen sich viele Versuchspersonen nicht nur auf ernsthafte Gespräche mit ELIZA ein, sondern vertrauten der Maschine intime und emotionale Dinge an und schrieben ihr menschliche Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen zu. Für vielen Nutzer:innen war es offenbar nicht wichtig, ob sie mit einer Maschine interagierten. Es kam nur darauf an, dass die Antworten und Fragen „menschlich“ erschienen. Dieses Phänomen wird heute als“ELIZA-Effekt” beschrieben und machte Weizenbaums Chatbot zu einem wichtigen Meilenstein der KI-Forschung, wie der Technikhistoriker Stefan Höltgen in diesem eingehenderen Beitrag zur Entstehungsgeschichte, Funktionsweise und Rezeption von ELIZA hervorhebt.
Selbst Praktizierende Psychotherapeut:innen verkündeten, das Programm „zu einer fast völlig automatischen Form der Psychotherapie ausgebaut werden“ und erhofften sich, mit ELIZA zukünftig deutlich mehr Patienten behandeln zu können.
Die Reaktionen auf ELIZA bringen Weizenbaum zum Nachdenken. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage stellt er die Rolle der Wissenschaft zunehmend infrage ...